Wenn ich von Kinderarmut lese, komme ich oft kurz ins Stutzen, weil das Wort etwas Widersprüchliches hat. Er klingt, als wären die Kinder allein arm und die dazugehörigen Erwachsenen nicht. Ich assoziiere damit auch, dass die Kinder etwas ändern könnten, aber die Krux an der Sache ist ja, dass sie an den Erwachsenen dranhängen und damit auch an deren Armut.
Hier in Deutschland wird die Diskussion über Kinderarmut manchmal polemisch geführt, zum Beispiel mit dem Hinweis, dass in unseren Breiten keiner verhungern müsse, weshalb es nicht so schlimm sei. Das kann sein, auch von Spaghetti mit Ketchup und Toastbrot ohne nix, wie Kinder sagen würden, kann man überleben. Die Frage ist nur, ob das unser Maßstab sein soll – in Deutschland und der Schweiz, die zu den reichsten Ländern der Welt gehören. Aktuell ist in der Schweiz jedes 8. Kind von Armut betroffen oder bedroht (1). In Deutschland lebt fast jedes 7. Kind unter 18 Jahren von Hartz IV (2). Denn abgesehen vom Hunger geht es natürlich um viele andere Aspekte.
Die Gründe für Armut sind komplex und vielfältig. Sie reichen von prekären Beschäftigungs-verhältnissen über Krankheit, Scheidung, Migration bis hin zu alleinerziehenden Elternteilen. Und die Ursachen der Armut bleiben häufig bestehen. Wird ein Elternteil schwer krank, bedeutet das in Deutschland häufig ein Abrutschen in die Harz IV-Schleife. Die Familien haben im Alltag nicht nur mit der Krankheit, sondern auch mit Armut zu kämpfen und die Kinder sind doppelte Verlierer.
Denn Armut bedeutet in unseren Ländern eben nicht, dass man nur keine Markenklamotten bekommt und ein Urlaub im Jahr gestrichen ist. Sie bedeutet, in schlechten Wohnlagen zu wohnen, die von Enge, Feuchtigkeit, Lärm und häufig auch Verwahrlosung und Gewalt geprägt sind. Und in denen Kinder inmitten von Drogenmissbrauch, Kriminalität und Aussichtslosigkeit aufwachsen und kaum Vorbilder haben, die ihnen zeigen, wie sie sich aus der Misere befreien können.
Sie bedeutet auch, sich schlechter zu ernähren und eher Übergewicht oder chronische Krankheiten zu entwickeln. Darüber hinaus hat sie viel mit sozialer Ausgrenzung zu tun, weil man nicht auf Klassenfahrten mitkann und ein Schwimmbadbesuch ebenso unerschwinglich ist wie die Kugel Eis, die sich die Mitschüler leisten können. Wenn das ein Dauerzustand ist, dann ist das schlimm, weil einen irgendwann keinen mehr fragt, ob man mitkommen will. Und wir reden hier nicht von Kino, Ferienlagern, Skiurlauben oder anderem, wir reden von einer Kugel Eis.
Armut führt auch dazu, dass Kinder ein schlechtes Selbstwertgefühl und Lernschwächen entwickeln. Für mich ist es fast das Perfideste daran, dass dadurch Armut zementiert wird. Man wird nicht einfach erwachsen und lebt dann ein anderes Leben, sondern hat eben nicht dieselben Lebenschancen wie die Mitschüler aus nicht armen Familien. Vor diesem Hintergrund sind Bibliotheken ebenso wie Leseförderungsprojekte von essentieller Wichtigkeit. Sie bieten Zugang zu fast kostenfreien Medien und ermöglichen es Kindern, sich Lese- und Textkompetenzen anzueignen und positive Lernerfahrungen zu machen.
Möglicherweise ist der Begriff Kinderarmut also doch nicht so irreführend wie ich dachte, denn er zeigt, wie stark Armut Kinder in Bezug auf ihre eigenen Leben und ihre Zukunft prägt. Und ich fände es schön, wenn wir als Gesellschaften unseren Kindern durch die richtige Förderung wenigstens die Möglichkeit geben würden, sich selbst für ein anderes Leben zu entscheiden. Wenn wir schon nicht so kreativ sind, uns bessere Mindeststandards für unseren Nachwuchs auszudenken und zu implementieren.
Irina Kessler
Quellen:
- https://www.caritas.ch/de/was-wir-sagen/unsere-aktionen/kinderarmut-in-der-schweiz.html
- https://www.srf.ch/news/schweiz/kampf-gegen-kinderarmut-caritas-fordert-nationale-strategie
- https://www.tagesschau.de/inland/kinder-hartz-vier-101.html
Für zwölf Wochen sind Irina und Edda von der Textagentur Kessler & Eckhardt zu Gast bei den Buchpaten. Beide texten, lektorieren und bloggen was das Zeug hält unter: www.abenteuerspielplatz.agency.