„Der Mann mit dem Regenschirm im Kopf“ Von der wunderbaren, wilden Welt im Bilderbuch

Der Mann mit dem Regenschirm im Kopf

Von Edda Eckhardt

Jeder kennt das: Es gibt Bücher, die liest man liebend gerne gemeinsam mit den Kindern und es gibt solche, die liest man eben. Und dann gibt es die, die man richtig gerne liest und feststellt, dass die Kinder ganz andere Sachen so echt richtig wirklich toll finden als man selbst. Macht ja nichts, denkt sich der aufgeklärte Erwachsene, Bücher funktionieren auf verschiedenen Ebenen und lächelt dabei weise. Dann merkt man aber, dass diese andere Ebene durchaus bei manchen Büchern auch etwas mit deren Abgründigkeit zu tun hat. Und ich als vermeintlich liberale Mutter erstmal leerschlucken musss.

 

Aber vielleicht von Anfang an: Es gibt bei uns zuhause Bücher, die mit geradezu fanatischer Hartnäckigkeit immer wieder zum Lesen angeschleppt werden. Die Bilderbücher von Tomi Ungerer, Maurice Sendak, Jean de Brunhoff, F.K. Waechter – ich kann „Das Biest des Monsieur Racine“ vorlesen, selbst wenn man mich an den Füßen hängend vom Eiffelturm schleudern sollte. Dasselbe gilt für „Wo die wilden Kerle wohnen“, „Da bin ich“, „In der Nachtküche“ und vor allem für „Die Abenteuer der Riesenbirne“. Bücher, die wir wieder und wieder anschaffen müssen, weil sie zerschlissen werden und irgendwann beim Anschauen auseinanderfallen. Schaut man sich diese Bücher gemeinsam mit meinen Kindern an, wird allerdings schnell klar, dass es nicht die Ästhetik der Bilder ist, die spannende Farbgebung, die skurrile Geschichte, die begeistern. Das alles sind mehr oder weniger meine Gründe, warum ich nicht müde werde, die Bücher zu zeigen. Die Gründe meiner Kinder sind andere.

Schauen wir uns zum Beispiel „Das Biest“ an, warten sie sehnsüchtig auf die Seiten, wo die beiden Kinder aus der faltigen Haut des Biestes kriechen. Schon allein, dass sich das Biest häutet und Kinder kriechen raus, löst bei uns begeistertes Gemurmel unter den Zuhörern aus. Und dann geht es los: Im Saal der Universität, wo das Biest präsentiert wird, bricht Tumult aus. Ein Mann reißt einer Frau die Perücke vom Kopf, einer anderen Frau steckt ein Füllfederhalter in der Nase und Tinte rinnt ihr übers Gesicht, da werden Kleider runtergerissen und blanke Brüste verdeckt, Fäuste fliegen, der Vorhang steht in Flammen – Saalschlacht. Dann kommt die Doppelseite, auf die sich alle freuen: die Straßenschlacht. Da stecken Passanten einander den Arm bis zum Anschlag in den Rachen, Gesichter sind verzerrt, die Perspektive des Bildes kippt genauso wie Autos, die Straßenbahn und das Bewusstsein vieler Passanten. Ein Mann beschwert sich bei der Polizei, denn ihm steckt ein Regenschirm im Kopf – der Polizist zeigt ihm daraufhin seinen Armstumpf. Meine Kinder sind hellauf begeistert. Ich bin befremdet und frage mich, ob all meine pazifistischen Erziehungsversuche denn umsonst waren. Erziehe ich hier vielleicht die nächste Generation von Soziopathen und werden meine Kinder irgendwann johlend mit Eishockeymasken über dem Gesicht das Elternhaus anzünden. Wahrscheinlich eher nicht. Was also ist passiert?

 

Geschichten haben über eine lange Zeit allen Menschen gehört: Großen und Kleinen. Irgendwann aber fanden die Großen, dass man den Kleinen doch nicht so viel zumuten solle. Geschichten müssten kindgerecht sein und einen Weltausschnitt abbilden, den man auch verarbeiten könne. Bis zum Hoppelhäschen war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Glücklicherweise hat sich auch diese Entwicklung mit der Zeit wieder relativiert und es wurden Forderungen laut, man möge der Realität wieder Raum geben – auch und gerade im Kinderbuch. Heute leben das Hoppelhäschen und der Mann mit dem Regenschirm im Kopf in friedlicher Koexistenz. Und trotzdem verstört uns als Erwachsene die aufgeregte Lust unserer Kinder an Bildern, bei denen detailliert hinzuschauen wir uns selber manchmal zwingen müssen. Oder deren ästhetische Wucht selbst uns noch die Gänsehaut den Arm hochkriechen lässt. Das ist schade! Schauen wir hin, fragen wir unsere Kinder danach – oder lassen sie in ihrer aufgeregten Lust ganz bei sich. Beides ist in Ordnung. Ich würde mir für meine Kinder ganz viel Hoppelhäschen wünschen und weiß doch, dass das so nicht klappt. Sie hauen drauf und stecken ein, sie finden es toll, wenn man sich mal gegen jemanden zusammenschließen können, sind fies und spüren dann Macht, sie sind einsam. Manchmal bricht es ihnen das Herz, so dass sie tagelang nicht essen können. Und manchmal ist die Welt so wild und groß und wunderbar, dass man nur noch laut schreien kann.

 

Autoren wie Ungerer, Sendak, Waechter und vielen anderen gehört mein Herz – denn sie haben Räume geschaffen, in die meine Kinder gehen können, um all diese Gefühle abzuladen. Wohlbehütet vor meinem elterlichen Zugriff.

 

 

Für zwölf Wochen sind Irina und Edda von der Textagentur Kessler & Eckhardt zu Gast bei den Buchpaten. Beide texten, lektorieren und bloggen was das Zeug hält unter: www.abenteuerspielplatz.agency.